Lara

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Theater für alle:

Seit 2019 können blinde und sehbehinderte Personen Theaterinszenierungen in Berlin vollends genießen. Das liegt an Menschen wie Charlotte Miggel, 29, die zur ersten Riege der Audiodeskriptor*innen in der Berliner Theaterszene zählt. Im Interview erklärt sie, wie sie in diesem ungewöhnlichen Beruf gelandet ist, worauf es bei ihrer Arbeit ankommt und wie sich ihr Blick auf die Welt verändert hat.

Audiodeskription

Du audiodeskribierst sowohl für Film als auch Theater, wo liegt der Unterschied?

Im Film habe ich vorgegebene Lücken und Timecodes, da weiß ich genau, dass ich 10 Sekunden habe, um das zu beschreiben. Am Ende geht das fertige Script an die Redaktion oder Filmproduktion, die es weiterverarbeitet und professionell einsprechen lässt. Im Theater ist es schwieriger, was auch der Grund ist, dass es das nur vereinzelt gibt. Da besuche ich erst eine Vorstellung und verfasse dann die Audiodeskription anhand einer Aufzeichnung und auch eine passende Einführung, in der ich schon Figuren und Kostüme beschreibe.

Wie genau gehst du beim Schreiben für das Theater vor?

Die erste Regel ist, dass man nicht alleine arbeitet, sondern mit einer blinden oder sehbehinderten Person zusammen, die mit mir die erste Version des Textes anhand der Videoaufzeichnung durchgeht. Sie sagt mir dann, was überflüssig oder lückenhaft ist. Das sind auf den ersten Blick banale Anmerkungen wie „er stellt den Eimer auf den Boden“ und sie sagt dann „wo kommt denn jetzt der Eimer her?“ Da fällt mir erst auf, dass ich das gar nicht erwähnt habe. Oder wenn ich schreibe „Er stellt den Metalleimer auf den Boden“, sagt sie: „Das musst du nicht sagen, das höre ich“.

Bist du dann auch bei der Vorstellung vor Ort?

Ja, die Einführung mit Begehung der Kulissen und Kostüme macht meistens die Dramaturgie, aber ich bin diejenige, die den Text live über Empfängergeräte und Kopfhörer einspricht. Ich spreche das ein, weil sich kein*e professionelle*r Sprecher*in so in der Inszenierung auskennen kann wie ich als Texterin. Denn man muss flexibel sein: Die Schauspieler können anders spielen oder es ergibt sich eine plötzliche Situationskomik, dann muss sowas spontan live beschrieben werden. Deswegen haben wir eben eine Text als Orientierungshilfe fürs Theater – und im Gegensatz zu Film kein endgültiges Script.

Hast du eine Arbeit an einer Inszenierung besonders in Erinnerung?

Besonders war das Stück Drei Mal Leben von Yasmina Reza im Berliner Ensemble, das wir wegen der Corona-Pandemie leider nie mit Live-Audiodeskription aufführen konnten. Das Bühnenbild bestand aus zwei Drehbühnen mit Stehlampen. Eine der Drehbühnen hatte noch einen Ring, der sie umgab. Wenn alles rotierte, fiel schummriges Licht auf die Bühne. Ich habe Sterne und Planeten im Universum gesehen. Und das war auch die Intention von Regie und Dramaturgie. Trotzdem sollen die Interpretationsmöglichkeiten der Zuhörer*innen offen bleiben, denn auch nicht jede sehende Person hat dieselbe Assoziation. Bei diesem Stück hat es mir wirklich Spaß gemacht, mit Worten herumzuknobeln. Ich kann ja nicht einfach sagen: „Das ist ein Universum, durch das Sterne kreisen“, denn es sind letztlich immer noch Drehscheiben auf einer Theaterbühne. Gleichzeitig versuche ich aber, mit Sprache ein entsprechendes Bild in die Köpfe der Zuhörer*innen zu projizieren. Ich glaube, ich bin voll der Freak (lacht) – ich habe mir sogar ein Glossar angelegt zu Galaxien und Sternen. Auf Basis dessen habe ich versucht, das richtige Vokabular zu wählen. Gleichzeitig wollte ich es aber dem/der Zuschauer*in überlassen, was er/sie sich vorstellt.

Nicht werten, geht das?

Ich halte auch immer Rücksprache mit der Regie und Dramaturgie. Wir waren damals zu zweit in dem Stück und meine Begleitung hat die Galaxie gar nicht gesehen. Das ist dann eben die Kunst des Beschreibens. Ich kann nicht mit Begriffen operieren wie „Drei Planeten kreisen im Schein des Universums“, weil das eben nur meine persönliche Assoziation ist. Und genau deswegen geht man das am Ende auch mit einer blinden oder sehbehinderten Person durch. Aber nein, man wird die Audiodeskription nie frei von Fehlern und Subjektivität kriegen.

Kannst du dich noch an dein erstes Mal als Sprecherin erinnern?

Klar, das werde ich auch nie vergessen. Mein erstes Stück das ich live beschrieben habe, war in der Jugendtheaterwerkstatt Spandau e.V. im September 2019. Komischerweise war dieses kleine Theater, das nur ein kleines Budget und kaum technische Ausrüstung hat, das erste in Berlin, das Audiodeskription angeboten hat. Dadurch, dass sie wenig Ressourcen hatten, habe ich dann laut mit Mikrofon für alle – auch die Sehenden – eingesprochen und nicht wie üblich über Kopfhörer. Das war der absolute Sprung ins kalte Wasser, denn die Sehenden haben natürlich jeden Fehler direkt mitbekommen.

Wie ist es überhaupt zu diesem Sprung gekommen?

Als ich in Leipzig beim Radio gearbeitet habe, verfasste ich einen Beitrag über Audiodeskription am Schauspiel Leipzig. Damals war ich total begeistert von dem Thema. Als ich dann für mein Studium nach Berlin kam und an der Schaubühne jobbte, fiel mir auf, dass es an keinem Berliner Haus Audiodeskription gab. Das hat mich schon überrascht, da die Berliner Theaterszene ja viel größer ist als die in Leipzig. Ich habe mich dann weiter informiert, mit der Pressesprecherin des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin gesprochen, Expert*innen getroffen und letztlich meine Masterarbeit darüber geschrieben. Das Kernthema war die Suche nach einem Kooperationsmodell zwischen den einzelnen Theatern in Berlin, und der Antwort auf die Frage: Warum gibt es das in Berlin nicht?

Und wie wurde das Ganze dann zu deinem Beruf?

Durch meine Masterarbeit kam ich in Kontakt mit Imke Baumann. Sie trieb das Projekt an, betreut durch den Verein Förderband e.V. (Anm.d.Red.: Kulturinitiative Berlin). Das Projekt wurde dann im Sommer 2019 konkret und ich nach einer Schulung Teil des Autor*innenteams. Wir bringen Audiodeskription an bislang fünf Bühnen: Das Theater an der Parkaue, die Deutsche Oper, den Friedrichsstadtpalast, das Deutsche Theater und das Berliner Ensemble.

Was lernst du von deiner Arbeit und dem damit verbundenen Kontakt zu Blinden und Sehbehinderten?

Ich habe erst durch diese Arbeit gelernt, welche konkreten Bedürfnisse und Ansprüche blinde und sehbehinderte Menschen haben. Und gleichzeitig auch eine oft viel intuitivere Wahrnehmung von Dingen. Sie orientieren sich verstärkt über Gerüche und Berührungen. Es ist immer wieder interessant, wie viel sie tatsächlich mitbekommen, ohne zu sehen. Das sind Sachen, bei denen ich mir nicht vorstellen kann, dass ich sie ohne meine Augen wahrnehmen könnte. Wenn ich mit meiner blinden Co-Autorin ins Theater gehe, bin ich oft überrascht, was sie alles schon verstanden hat.

Du sprichst immerzu von „blinder“ Co-Autorin. Gibt es einen Unterschied, ob du eine Audiodeskription für blinde oder sehbehinderte Menschen schreibst?

Es gibt natürlich einen ganz großen Unterschied, ob jemand geburtsblind ist, erst mit 30 erblindet ist oder nur leicht sehbehindert ist. Wenn jemand geburtsblind ist, kann man wenig mit Farben oder abstrakten Formen anfangen. Man assoziiert Farben dann eher mit dem, was man ihnen zuschreibt. Für Menschen, die eine leichte Sehbehinderung haben ist Audiodeskription im Theater hilfreich. Sie sitzen dann in der ersten Reihe, sehen Konturen, oder verschwommen, was passiert und hören ergänzend meine Kommentare.

Es gibt 164.000 blinde und etwa 500.000 sehbehinderte Menschen in Deutschland. Wie viele Menschen nehmen so ein Angebot war?

Es gibt mittlerweile schon eine Community bzw. ein Stammpublikum. Das ist natürlich wenig, wenn man wirtschaftlich denkt. Denn es ist wie bei Sehenden auch: Nicht jede/r Mensch mit Sehbehinderung ist kulturbegeistert, geht dann noch gern ins Theater, hat auf das angebotene Stück Lust und darüber hinaus auch noch Zeit, den individuellen Vorstellungstermin wahrzunehmen. Es gibt ein Angebot an zwanzig Empfängergeräten, im besten Fall können also zwanzig Blinde/Sehbehinderte gleichzeitig kommen. Vorbild ist da Leipzig, die manchen das schon länger und es gibt Audiodeskription bei fast jeder Produktion. Oder in Wien, da hat es auch schon Vorstellungen mit bis zu 50 Blinden/Sehbehinderten gegeben. Allerdings ist es dort technisch anders umgesetzt: Per Radiofrequenz. Das heißt, es können unbegrenzt viele Menschen die Audiodeskription verfolgen. Es breitet sich im deutschsprachigen Raum langsam aus, aber es dauert.

Du bist in beiden Welten unterwegs: Hast du einen Tipp für die Sehenden?

Insgesamt würde ich mir mehr Bewusstsein wünschen seitens der Menschen, die keine Behinderung haben – egal, welcher Art. Ich habe natürlich vorher auch nicht darüber nachgedacht. Aber jetzt erkenne ich das Bedürfnis, an Kultur teilzuhaben. Und ich erlebe es viel zu oft, dass ich gefragt werde: „Warum müssen blinde Menschen überhaupt ins Theater gehen, die können sich doch auch ein Hörbuch zu Hause anhören?“ Dabei geht es letztlich um gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe und darum, mitgedacht zu werden. Ich würde mir einfach wünschen, dass Menschen mit jeglicher Form von physischer oder kognitiver Einschränkung eingeladen werden, Theater zu genießen und am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben.

 


 

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